Die Gewinnerin steht fest – Die Jurydebatte um den Dramatikerpreis zum Abschluss der 33. Mülheimer Theatertage
Wahnsinnig gut erfunden
von Dirk Pilz
24. Mai 2008. Sie gingen förmlich in die Knie und stammelten ihre Bewunderung heraus: "großartig", "wahnsinnig", "wundervoll". Diese "Intensität" und "Musikalität", die "Stringenz" und welch' "Meisterschaft" dabei! Am Ende fiel die Entscheidung in seltener Einmütigkeit: Ohne Gegenstimme wurde Dea Lohers Stück "Das letzte Feuer" der Mülheimer Dramatikerpreis 2008 samt 15.000 Euro Preisgeld zugesprochen.
Die Wahl hatte sich bei der von Gerhard Jörder moderierten Jurydebatte früh angedeutet. Wilfried Schulz, seines Zeichens Intendant am Schauspiel Hannover, belobigte den Text in seinem Jury-Votum für die "große Strenge" und bemerkte einen sonst kaum beachteten Punkt: Dieses Stück von "seltener Klarheit", in dem ein tödlich verunglücktes Kind der geheime Schmerzpunkt einer Stadtteilgemeinschaft ist, versammle zwar viel Schmerz, "in der Wärme der Sprache liege dabei aber auch ein großer Trost". Peter Michalzik, Frankfurter Theaterkritiker, stufte zustimmend das Drama als "sehr ausgereift" und "klug" ein, Anke Dürr, Theaterredakteurin beim KulturSPIEGEL, fand die Figuren "einfach wahnsinnig gut erfunden", Marion Hirte, Chefdramaturgin am Schauspielhaus Graz, wollte allenfalls auf "sehr hohem Niveau kritteln" und für den Dramatiker Oliver Bukowski ist "Das letzte Feuer" auch deshalb ein großer Text, weil er unangestrengt komische Töne anzuschlagen wisse.
Berauscht an der eigenen Begeisterung
Fast war es, als habe sich die Jury an ihrer eigenen Loher-Begeisterung berauscht. Dea Loher, zum sechsten Mal nach Mülheim eingeladen, hat den wichtigsten Preis für Gegenwartsdramatik damit zum zweiten Mal erhalten; 1998 gewann die in Bayern geborene und heute meist in Berlin lebende Autorin mit ihrer Woyzeck-Fortschreibung "Adam Geist".
Es gab in der Jurydebatte rasch Kandidaten, die eindeutig nicht in Frage kamen: Laura de Weck mit ihrem Stück "Lieblingsmenschen" (ein sympathischer Versuch, mehr nicht, hieß es übereinstimmend), Fritz Kater mit "Heaven (zu tristan)" (die vielen historischen und mythischen Bezüge erschlössen sich letztlich eben doch nicht), René Polleschs "Liebe ist kälter als das Kapital" (keine Weiterentwicklung im Pollesch-Werk), Philipp Löhles "Genannt Gospodin" (zu "theoretisch" meinte Dürr, "loungige Lässigkeit" sah Schulz am Werk) und Theresia Walsers "Morgen in Katar" (Stücke, die in Zügen spielen, funktionierten einfach nicht, so Michalzik).
Aufschlussreich widersprüchlich
Ernsthaft diskutiert wurden daher lediglich drei der acht eingeladenen Stücke. Und warum der Preis nicht an Felicia Zellers "Kaspar Häuser Meer" oder an Ewald Palmetshofers "hamlet ist tot. keine schwerkraft" ging, wurde aufschlussreich widersprüchlich begründet.
Bei Zeller konnten sich die fünf Juroren nicht darauf einigen, inwiefern das Stück über drei Sozialarbeiterinnen ein realistisches Stück sei. Für Michalzik ist der hohe Wiedererkennungswert "verräterisch", denn in seinem Abbildungscharakter renne der Text offene Türen ein. Schulz sieht den Text sich an "die Realität heran schreiben", Dürr erkannte eine "kondensierte Sprache", durch die viel "über" die Realität zu erfahren sei. Für Hirte dagegen ist es kein realistisches Drama, es wirke aber so, während Bukowski betonte, dass es "höchst artifiziell" gemacht sei. Sehr verdichtet und sehr dicht an der Lebenswirklichkeit – und deshalb ein "realistisches Drama"? Das Podium konnte sich nicht einigen, was Realismus eigentlich meint und entschied sich gegen Zeller. Zum ersten Mal seit Bestehen der Mülheimer Dramatikertage wich deshalb der in geheimer Abstimmung ermittelte Publikumspreis von der Juryentscheidung ab: Für die insgesamt über 3.000 Zuschauer bei der 33. Festival-Ausgabe heißt die Siegerin eindeutig Felicia Zeller.
Irgendwie nicht zu fassen
Noch aufschlussreicher aber war, warum Ewald Palmetshofer – wie Zeller erstmals im Mülheimer Wettbewerb vertreten – leer ausging. Der Jury war "hamlet ist tot" ein unergründliches Denkwerk – und verwendete am häufigsten das Wort "irgendwie". "Irgendwie weiß ich dieses Stück nicht zu fassen" (Michalzik); "irgendwie ein merkwürdiger Sound" (Schulz); "irgendwie strukturell überfrachtet" (Hirte); "irgendwie sehr theoretisch" (Bukowski). Das "deutlich schwierigste Stück" des Wettbewerbs (Michalzik) produzierte allergrößtes Verunsicherungspotential: Ist es genial? Tut es nur so? Und wo will dieser Text eigentlich hinaus? Großes Rätselraten. Anke Dürr konnte am Schluss nicht einmal mehr eine schlichte Inhaltsangabe von Marion Hirte teilen. Man einigte sich daher auf eine leicht gönnerhafte Lösung: Weiterschreiben, Herr Palmetshofer, Sie offensichtliches Talent! Ein wenig fühlte man sich hier an Goethes altväterlich bis herablassenden Rat für den jungen Hölderlin erinnert: Probiere er sich zunächst an "kleineren Formen", dann werde das vielleicht auch etwas.
Insofern hat sich die Jury mit ihrer Entscheidung auf die sichere Seite begeben. Denn dass Dea Loher für "Das letzte Feuer" den Preis bekam, wird den Juroren kaum jemand vorwerfen können: Es ist ein unerhört engmaschiger, gedankentiefer, poetischer Text, der sich an den großen Fragen und letzten Dingen abarbeitet und dabei von einer eigenen Sprache mit gewachsener Stilsicherheit getragen wird. Dea Loher ist aus besten Gründen eine längst durchgesetzte und allerhöchst anerkannte Autorin. Die Entscheidung für Zeller oder Palmetshofer wäre so gesehen mutiger, angreifbarer, vielleicht auch zukunftsweisender gewesen.
Lesen zu mehr zu Auswahl- und Juryverfahren, was uns die Juroren Peter Michalzik und Oliver Bukowski darüber sagten und was für die acht nominierten Dramatiker ein gutes Drama ausmacht. Wie die anderen Medien die Preisentscheidung bewerteten, lesen Sie in unserer Presseschau. Wenn Sie sich selbst ein Bild machen möchten, können Sie auf der "Stücke"-Seite noch mal den Diskussions-Mitschnitt ansehen.